Universitätsschule
Universitätsschule
Universitätsschulen: Eine Reform der pädagogischen Ausbildung an der Universität durch eine produktive Verbindung von Wissenschaft und Praxis in Schulen
Die Ausbildung in Universitätsschulen ist eine grundlegende Reform der Ausbildung von Pädagogen, in der wissenschaftliche Ausbildung in der Universität und der praktischen Ausbildung an den Universitätsschulen eine produktive Verbindung eingehen. In Nürnberg wurde in enger Zusammenarbeit mit dem Kultusministerium, Seminarlehrern des Studienseminars Nordbayern sowie Schulleitern aus der Region von Prof. Wilbers ein Konzept für die Universitätsschule erarbeitet. Seit Oktober 2009 werden alle Studierenden im Nürnberger Masterstudiengang verpflichtet, an diesem Programm teilzunehmen.
Fünf Universitätsschulen in der Metropolregion Nürnberg
Fünf Seminarschulen aus dem regionalen Umfeld der Universität werden dabei zu Universitätsschulen. Es sind dies in Nürnberg die Berufliche Schule 4 (Schulleiter Hr. Krabbe, Seminarleitung Hr. Hösch), die Berufliche Schule 6 (Schulleiter Hr. Burger, Seminarleitung Fr. Lämmermann), die berufliche Schule 9 (Schulleiterin Fr. Horneber, Seminarleitung Fr. Sulzer-Gscheidl), in Erlangen die Berufsschule Erlangen (Schulleiter Hr. Topinka, Seminarleitung Hr. Palesche) sowie in Fürth die Ludwig-Erhard-Schule (Schulleiter Hr. Mihatsch, Seminarleitung Fr. Schreiner).
Berufsschule Erlangen (Schulleitung: OStD Topinka) |
Berufliche Schule 4 der Stadt Nürnberg (Schulleitung: OStD Krabbe) |
Berufliche Schule 6 der Stadt Nürnberg (Schulleitung: OStD Burger) |
Berufliche Schule 9 der Stadt Nürnberg (Schulleitung: OStDin Horneber) |
Ludwig-Erhard-Schule Fürth (Schulleitung: OStD Mihatsch) |
Zielsetzung der Universitätsschulen
Die wirtschaftspädagogische Ausbildung im Nürnberger Master zielt auf die Entwicklung in zwei Kompetenzbereichen (siehe auch Kunter, Klusmann & Baumert, 2009; Lehmann-Grube & Nickolaus, 2009).
- Fachwissenschaftliche Kompetenz: Die fachwissenschaftliche Kompetenz spricht Fachleute für Wirtschaftwissenschaft und Wirtschaftspraxis sowie gegebenenfalls einer weiteren allgemeinen Domäne, dem Zweitfach, an. Damit ist ein tiefes Verständnis der Wirtschaftswissenschaften und der dazugehörigen Berufspraxis (Wirtschaftspädagogik) bzw. der Ingenieurwissenschaften und der dazugehörigen Berufspraxis (Berufspädagogik) angesprochen. Im Fall der Studienrichtung II gehört dazu auch ein tiefes Verständnis einer allgemeinen Domäne.
- Berufs- und wirtschaftspädagogische Kompetenz: Im Zentrum der berufs- und wirtschaftspädagogischen Kompetenz steht die didaktische Kompetenz, die Fachleute für berufs- und wirtschaftspädagogische didaktische Handlungsfelder anspricht. Dies sind die Vorbereitung, Durchführung, Reflexion und Fortentwicklung vom traditionellen und handlungsorientierten Unterricht, die berufliche Erziehung, die individuelle Förderung unter Berücksichtigung der Diversität der Lerner, das Assessment, d. h. die Diagnose und Bewertung sowie die Förderung überfachlicher Kompetenzen. Über den Unterricht hinausgehend zählt dazu auch die Kooperation im Umfeld sowie die Analyse und Entwicklung von Bedingungen der pädagogischen Arbeit, zum Beispiel im Rahmen der Schulentwicklung. Unter der Zielrichtung „Polyvalenz“ sind dabei als Handlungsfelder nicht nur die beruflichen Schulen, sondern auch die anderen Tätigkeitsfelder von Berufs- und Wirtschaftspädagogen zu berücksichtigen. Letztere werden vereinfachend als „Betriebspädagogik“ bezeichnet.
Die Entwicklung dieser Kompetenzen erfolgt über eine Verbindung von zwei Modi (siehe auch Harteis, 2009):
- Hineinwachsen in eine professionelle Gemeinschaft in der Schule: Nach der Leitvorstellung praxisbezogener Gemeinschaften („Communty of practice“, vgl. Wenger, 2007) wachsen Novizen ausgehend von einer ‚legitimen peripheren Partizipation‘ nach und nach zu einem ‚vollwertigen‘ Mitglied einer Praxisgemeinschaft. Dabei spielt der persönliche, direkte Austausch mit Professionals in der Gemeinschaft eine große Rolle.
- Systematisches Lernen: Neben diesem Austausch mit Professionals in der Praxisgemeinschaft steht die systematische Auseinandersetzung mit dem Wissen, das für eine Profession kennzeichnend ist.
Die bisherige Ausbildung von Lehrkräften wird diesen beide Modi oft nur unzureichend gerecht. So sind beispielsweise die betreuenden Lehrer bei Schulpraktika oft wenig vertraut mit den Inhalten der didaktischen Ausbildung an der Universität.
Blended Learning: Der Mix von Mentoring in Schulen, mediengestütztem Selbststudium und universitären Präsenzphasen
Die Vorlesungen und Übungen zur Didaktik wurden in Nürnberg abgeschafft. An die Stelle tritt eine gezielte Kombination („Blended Learning“) von Mentoring an den Universitätsschulen, mediengestütztem Selbststudium und Präsenzblöcken an der Universität.
- Mediengestütztes Selbststudium in Stammgruppen: Die Studierenden werden in feste Stammgruppen von vier bis sechs Studierenden eingeteilt. Sie setzen sich im Selbststudium in der Stammgruppe oder individuell mit dem Selbstlernmaterial auseinander. Neben die Lektüre treten dabei Lernaufträge, das Herstellen komplexer Handlungsprodukte, das Führen eines didaktischen Tagebuches bzw. E-Portfolioarbeit (siehe unten) und die Teilnahme an wöchentlichen virtuellen Konferenzen. Das Selbststudium wird technisch unterstützt. Die Studierenden arbeiten mit einem Learning Management System einschließlich einer E-Portfolio-Plattform, einem System für virtuelle Konferenzen sowie einer technischen Plattform zur besonderen Unterstützung des gegenseitigen Austausches („Community-Plattform“).
- Mentoring durch Lehrkräfte an der Schule: Jede studentische Stammgruppe erhält einen festen Mentor an einer Universitätsschule. Das Mentoring ist eine moderne Form der Personalentwicklung in Unternehmen, aber dient international auch der Aus- und Weiterbildung von Lehrkräften (Hobson et al. 2009). Als Mentoren werden Lehrkräfte der Universitätsschule eingesetzt. Diese werden von der Universität auf diese Aufgabe vorbereitet, erhalten themenspezifische Anregungen zum Mentoring und setzen sich mit den gleichen inhaltlichen Grundlagen wie die Studierenden auseinander. Die Mentoren verwenden das entwickelte Selbststudienmaterial und nutzen selbst die technische Infrastruktur. Die Tätigkeit der Mentoren wird auf die Unterrichtsverpflichtung angerechnet. Um die digitale Kommunikation innerhalb der Universitätsschule zu erleichtern, erhalten die Mentoren ein mobiles Endgerät (Blackberry) mit Übernahme der Datenkosten im Rahmen eines korrespondierenden Forschungsprojektes des Lehrstuhls zum Mobile Learning (Kalsperger & Wilbers, 2009).
- Präsenzblöcke an der Universität: Die Präsenzblöcke an der Universität vertiefen das erworbene Wissen, werten Lernaufträge der Studierenden aus und erproben, beispielsweise in Rollenspielen, Anforderungssituationen, die sich so in Schulen oft nicht immer erfahren lassen, zum Beispiel die Durchführung von Konfliktgesprächen.
Das Nürnberger Universitätsschulmodell ist von Anfang an als eine Ergänzung zur zweiten Phase der Lehrerbildung entworfen worden. Das Modell kann und will die zweite Phase nicht, auch nicht zum Teil, ersetzen. Die Universitätsschulen sind in der Nürnberger Vorstellung immer Seminarschulen, um Referendare und Seminarlehrer einbinden zu können. Die Seminarlehrer werden an beiden Lernorten, an Universitätsschule und Schule, integriert und übernehmen wichtige Aufgaben in der Kompetenzentwicklung. Eine enge Zusammenarbeit mit den Seminarlehrern ist grundlegend für die Qualität des Universitätsschulbetriebs.
Das inhaltliche Zentrum der Universitätsschule ist das in Nürnberg entwickelte didaktische Prozessmodell. Dieses Modell phasiert die Aspekte der oben skizzierten berufs- und wirtschaftsdidaktischen Kompetenz. Es startet mit der Entwicklung einer didaktischen Grundidee, berücksichtigt die Grob- und Feinplanung, die Umsetzung bis hin zur Evaluation und Revision von Unterricht. Dabei werden Aspekte der Schulentwicklung und des Qualitätsmanagements sowie Megatrends und deren Folgen, zum Beispiel bezüglich ethnisch-kultureller Diversität integriert. So werden auch am Lehrstuhl entwickelte Standards für die Ausbildung von pädagogischen Professionals als Teil des Diversity Managements (Kimmelmann, 2009) integriert. Auf der Basis des Prozessmodells wurden Lerneinheiten für das mediengestützte Selbststudium entwickelt, beispielsweise zur Nutzung von Lehrplänen, Lehrbüchern oder curricularen Prinzipien. Die Studierenden setzen auch diagnostische Instrumente im Schulalltag ein. Einzelfallstudien, die der vertieften Auseinandersetzung mit einzelnen Schülern und ihrem Umfeld dienen, spielen eine große Rolle. Mit dem Einsatz von standardisierten Instrumenten, beispielsweise zur Erfassung von Lernkompetenz und dem Einüben in das Fallverstehen ergibt sich ein besonders enger Bezug zur Methodik empirischer Forschung. Die forschungsmethodische Ausbildung der Studierenden ist ein integraler Teil der Universitätsschule.
E-Portfolio-Arbeit: Selbstreflexion(skompetenzen) der Studierenden stärken
Die Selbstreflexion der Studierenden, z. B. das Nachdenken über den naiven Prozess der Kulturalisierung von Differenzen im (Lern-) Verhalten, spielt in der Universitätsschule eine zentrale Rolle. Während des Studiums leisten die Studierenden Portfolioarbeit. Portfolios entwickelten sich zunächst als Sammlung von Produkten bei der Bewerbung, beispielsweise an Kunsthochschulen. Portfolios in der Lehrerbildung heben heute vor allem auf den Aspekt der Dokumentation von Lern- bzw. Arbeitsprodukten (Artefakten) und der damit verbundenen Selbstreflexion ab. Als E-Portfolios (Jahn, Trager & Wilbers, 2009) werden außerdem die Möglichkeiten moderner Internettechniken genutzt. Die Grenzen zu E-Coaching (Trager & Wilbers, 2008) sind dabei fließend. Die Studierenden sammeln auf einer spezifischen, mit der Lernplattform der Universität verlinkten Webseite Artefakte, zum Beispiel Unterrichtsplanungen, die detaillierte, fallstudienförmige Beschreibung eines Schülers, eines Individualfeedbacks oder des Berufsbereichs der Schule im Rahmen der Bedingungsanalyse. Außerdem führen sie auf dieser Plattform, d. h. in einem geschützten Bereich des Internets, als Weblog ein pädagogisch-didaktisches Tagebuch. Diese Reflexionsphase wird durch spezifische Leitfragen (‚prompts‘) unterstützt. Die persönlichen Portfolioinhalte werden von dem einzelnen Studenten in einem nächsten Schritt ausgewählt, ggf. in einer Gruppe oder dem Mentor gegenüber präsentiert und sie werden – auch gemeinsam – kommentiert bzw. reflektiert. Anschließend können die Artefakte von den Studierenden neu gebündelt und in Form eines Showcase-Portfolios für die Bewerbung bereitgestellt werden, das insbesondere als Teil des Bewerbungsverfahrens bei einer Direktbewerbung der Schulleitung gegenüber geöffnet werden kann. Auf diese Weise kann nicht nur der Personalentwicklungsprozess, sondern auch der Personalauswahlprozess für berufliche Schulen in Bayern unterstützt werden.
Reflexive Praktika, Werkstatt Praxisforschung, lernortkooperative Zertifikatskurse und bezahlte Unterrichtstätigkeit: Weitere curriculare Elemente der Universitätsschule
Die bisherigen Schulpraktika werden im Umfang von der Universitätsschule nicht berührt, aber zu reflexiven Praktika fortentwickelt. In der Universitätsschule widmen sich die Studierenden im Rahmen der Werkstatt Praxisforschung mit den Schulen in der Region kooperativ definierten Forschungs- und Entwicklungsaufgaben. Neben dem verpflichtenden Angebot wird ein Differenzierungsbereich aufgebaut. In den ersten Semestern dient dieser Bereich vor allem dem Eingehen auf unterschiedliche Eingangsvoraussetzungen der Studierenden. Diese werden als Folge einer ausdifferenzierten Zulassung(sprüfung) zum Master definiert. In den höheren Semestern können die Studierenden zusätzliche lernortkooperative Zertifikatskurse absolvieren. So ist beispielsweise in Kooperation mit der Beruflichen Schule 14 in Nürnberg ein Zertifikatskurs zur Qualifizierung von Betreuern von Übungsfirmenarbeit geplant. Weiterhin können sich die Studierenden mit Blick auf den Einsatz integrierte Unternehmenssoftware (ERP-Systeme) im Unterricht (Pongratz, Tramm & Wilbers, 2009) eine Qualifizierung ihrer Ausbildung im Umgang mit SAP zertifizieren lassen. Im Gespräch ist auch eine externe Zertifizierung von Microsoft im Zusammenhang mit Microsoft Dynamics NAV bzw. Microsoft Navision. Weiterhin wurden mit dem Amt für berufliche Schulen in Nürnberg Absprachen getroffen, den Studierenden Möglichkeiten zu bezahlten Unterrichtstätigkeiten zu ermöglichen. Der Differenzierungsbereich soll stufenweise mit externen Partnern weiter ausgebaut werden.
Mehr als Studierende ausbilden: Das Nürnberger Leitbild regionaler Lerngemeinschaften
Universitätsschulen folgen in der Nürnberger Vorstellung dem Leitbild regionaler professioneller Lerngemeinschaften (Professional Learning Communities): Es geht nicht allein um das Lernen der Studierenden, sondern auch um die Weiterentwicklung der Lehrkräfte, der Seminarlehrkräfte, der Schulleitungen, der Referendare sowie der beteiligten Wissenschaftler bzw. – institutionell betrachtet – die Weiterentwicklung von Universitäten und Schulen. Universitätsschulen unterscheiden sich von anderen Schulen so wie Universitätskliniken von ‚normalen‘ Kliniken. Der Übergang zwischen gemeinsamer Forschung und Lehre soll in der Universitätsschule fließend sein. In diesem Verständnis ergeben sich hohe Ähnlichkeiten zu modernen Wissenschaftskonzeptionen, zum Beispiel zur Design-Forschung (Collins, 1999; Schoenfeld, 2006; Kelly, Lesh & Baek, 2008), zur Fallstudienforschung (Yin, 2009) und zum Collaborative Action Research (Mitchell, Reilly & Logue, 2009). In einem solchen Verbund muss sich das Nürnberger Modell der Universitätsschule bewähren und fortentwickeln.
Literaturverzeichnis
Yin, R. K. (2009). Case study research: Design and methods (4. Aufl.). Thousand Oaks, Calif: Sage.